Article Number: 1396
Magazine, German, Glue Binding, 264 Pages, 2009, Texte zur Kunst
Isabella Graw

Texte zur Kunst - Heft 75 (September 2009)

Geschmack / Taste

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Die vorliegende Ausgabe von Texte zur Kunst ist buchstäblich Geschmackssache. Unsere Entscheidung die Kategorie "Geschmack" erneut in das Zentrum der kunstkritischen Debatte zu rücken, ist dem Umstand geschuldet, dass sie zwar einst in Form von Kants "Kritik der Urteilskraft" grundlegend für die Entstehung der philosophischen Ästhetik war, heute aber als "blinder Fleck" der Kunstkritik und künstlerischen Praxis gelten kann.

Denn auch wenn persönliche Präferenzen immer schon eine Rolle in der Wahl von Formen, Konzepten und Themen spielten, wird Geschmack bzw. sein Einfluss auf individuelle Entscheidungen nur selten explizit thematisiert oder gar als Argument in der Debatte um ästhetische Fragen geltend gemacht. Und das nicht zu Unrecht. Das Geschmacksurteil, das sich laut Kant eben nicht nur durch seine „Interesselosigkeit“, sondern gleichermaßen „Begriffslosigkeit“ auszeichnet, stellt ein scheinbar unhintergehbares, letztlich arbiträres Motiv für eigene Setzungen und Handlungen dar, das nur schwer vermittelt und zur Diskussion gestellt werden kann. Umso dringender stellte sich uns die Frage, welche Rolle Geschmack in der modernen und zeitgenössischen Kunst spielt und wie sich seine historische Entwicklung und allgegenwärtige Bedeutung fassen, plausibilisieren und gleichsam auf den Begriff bringen lassen.Die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge gehen von der Diagnose aus, dass sich die Implikationen des Geschmacks seit den klassischen Versuchen der philosophischen Ästhetik, ihn als Ausdruck der Emanzipation des bürgerlichen Subjekts in der individuellen, jedoch objektiven Urteilsfindung gegen feudale soziale Hierarchien und Regelpoetiken in Stellung zu bringen, unter den Bedingungen des „neuen Geists des Kapitalismus radikal verändert haben. War er einst m it dem Versprechen der Autonomie des modernen Subjekts verbunden, ist er heute zu einem der ideologischen Antriebe von Lifestyle- und Kulturindustrien avanciert, die Identitätsbildung aufs engste mit Konsum verzahnt haben. Damit ist Geschmack als Kategorie der Ästhetik aber mitnichten desavouiert. Vielmehr gilt es den Versuch zu unternehmen, seine einstmals emanzipatorische Dimension jenseits der falschen Alternative von Autonomievorstellungen und Massenkonsum neuerlich zu formulieren (siehe den Beitrag von Christoph Menke) und seine allzu oft unhinterfragte Bedeutung innerhalb der sozialen und ökonomischen Mechanismen des Kunstfelds und verwandter visueller Industrien des digitalen Zeitalters aus kunstkritischer Perspektive zu explizieren. In diesem Sinne gilt es für die Kunstkritik die idiosynkratischen Tücken und kritischen Potenziale der Kategorie Geschmack und ihre methodischen Konsequenzen eingehender zu diskutieren (siehe die Beiträge von Manfred Hermes, Dominic Eichler, Niklas Maak und Rose-Maria Gropp).
Auch aus Sicht der künstlerischen Produktion, in der apodiktische Geschmacksurteile ebenso zum guten Ton gehören wie arkane Referenzen, die mal als Distinktionsmerkmal genossen werden und mal als geschmäcklerische Legitimation auf Ablehnung stoßen, kommt Fragen nach den Grenzen der „ästhetischen Toleranz“ eine entscheidende Bedeutung zu (siehe das Gespräch zwischen Helmut Draxler und Michael Krebber sowie die Beiträge von Thomas Hirschhorn, Sarah Morris, Mai-Thu Perret und Markus Schinwald). Geschmack als soziologische Größe ist seit den 1990er Jahren immer wieder Thema institutionskritischer Arbeiten gewesen (etwa bei Andrea Fraser und Christian Philipp Müller). Die noch frischen Eindrücke von der diesjährigen Biennale in Venedig, auf der mitunter ganze Pavillons ein Kontinuum aus Kunst, Design und Sexualität unter dem Banner des sprichwörtlichen „guten Geschmacks“ ausstellten, geben erneut Anlass, über den Status von Geschmacksfragen in der zeitgenössischen Kunst nachzudenken (siehe den Beitrag von Ina Blom). Und auch die in Basel aufgeführte sogenannte Künstleroper „II Tempo del Postino“ bietet eine produktive Gelegenheit, über den Einfluss des persönlichen Geschmacks auf die Bewertung eines solchen künstlerischen „Ereignisses“ zu sprechen (siehe den Roundtable zu „II Tempo del Postino“ mit Bettina Funcke, Erika Hoffmann, Nina Pohl und Andre Rottmann). (Editorial)


Sprache: Deutsch/Englisch